Ermittlung und Restitution von NS-Raubgut der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Beschreibung
Im Dritten Reich wurden in großem Umfang neben Kunstwerken auch Bücher im Zuge von Beschlagnahmungen bei verbotenen und aufgelösten Organisationen sowie bei der Enteignung von Emigrantinnen und Emigranten sowie von deportierten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern durch Organe der NSDAP sowie des Staates geraubt (Raubliteratur). Hinzu kam der Raub „erbeuteter“ Bücher in den während des Zweiten Weltkriegs besetzten Gebieten. Während ein großer Teil dieser geraubten Bücher zum Teil bewusst vernichtet wurde oder in den Wirren der Kriegszeit verlorenging, findet sich ein Teil noch heute in den Beständen wissenschaftlicher Bibliotheken.
Forschungsprojekt
Seit einigen Jahren widmet sich die Forschung in zunehmendem Maße diesem wichtigen Thema. Die SUB Göttingen nahm die im Mai 2008 im Alten Rathaus gezeigte Ausstellung „und euch zum Trotz“ zur Bücherverbrennung 1933 zum Anlass, um erste Hinweise auf die Aufnahme von Raub- und Beutegut in ihre Bestände im Nationalsozialismus näher zu prüfen. Mit finanzieller Unterstützung des Präsidiums der Universität Göttingen erstellte sie im Rahmen eines neunmonatigen Vorprojekts (1.9.2008 - 31.5.2009) auf der Grundlage erster Vorarbeiten das Konzept eines umfassenden und systematischen Forschungsprojekts zur Ermittlung und Restitution unrechtmäßig erworbener Literatur in der Zeit des Nationalsozialismus.
Das Forschungsprojekt, an dem Wissenschaftlerinnen und Bibliothekare der SUB Göttingen beteiligt waren, wurde vom 1.6.2009 bis zum 31.8.2011 durchgeführt. Die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung (AfP) am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz förderte das Projekt mit Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien mit rund 60.000 Euro. Die SUB Göttingen unterstützte das Projekt mit Eigenleistungen im selben Umfang.
Projektaufgaben und -arbeitsschritte sowie Ergebnisdokumentation
Im Rahmen des Vorprojekts wurden sämtliche erhaltene Zugangsbücher der Bibliothek von 1933 bis 1950 und die dort enthaltenen Angaben über erworbene Titel, ihr Erscheinungsort und -jahr, ihre Akzessionsnummer, das Datum ihres Eingangs sowie die Art und Quelle ihrer jeweiligen Erwerbung geprüft, um einen ersten Überblick über den Umfang verdächtiger Erwerbungen zu erhalten. Insgesamt wurden ca. 100.000 Eintragungen überprüft. 8.221 von ihnen wurden als verdächtig eingestuft und in einer Datenbank festgehalten.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden sämtliche Verdachtsfälle genauer untersucht. Neben einer Ermittlung möglicher Hinweise auf frühere Besitzerinnen und Besitzer im Buch selbst (Besitzstempel, Geschenkexlibris, Name, Widmung u. a.) waren auch umfassende Recherchearbeiten in verschiedenen Archiven zu leisten, um genauere Informationen über die jeweilige Art und die Umstände der Erwerbung zu erhalten. Sämtliche abschließend als Raub- oder Beutegut ermittelten Bücher wurden im Göttinger Universitätskatalog (GUK) als solche gekennzeichnet. Darüber hinaus wurden auch die Verdachtsfälle, deren Beschaffungsumstände nicht genau festgestellt werden können, in diesem Katalog kenntlich gemacht. Die Katalogeintragungen sind mit Erläuterungen und auf Archivstudien beruhenden Angaben zur Erwerbungsgeschichte der jeweiligen Titel versehen. Sämtliche nachgewiesenen und verdächtigen Raubgutfälle wurden zudem in der Internet-Datenbank Lost Art veröffentlicht. Gleichzeitig wurde nach möglichen Vorbesitzerinnen und -besitzern bzw. deren Erbinnen und Erben recherchiert, damit ihnen eine Rückgabe der unrechtmäßig erworbenen Bücher angeboten werden konnte.
Die historischen Hintergründe, Arbeitsweise und Ergebnisse des Forschungsprojekts wurden im Rahmen der Ausstellung „Bücher unter Verdacht – NS-Raub- und Beutegut an der SUB Göttingen“ vom 13.5.2011 bis zum 10.7.2011 im Foyer der Zentralbibliothek der SUB Göttingen mit Unterstützung des Universitätsbundes Göttingen e. V. einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ausstellung ist in einem gleichnamigen Katalogfestgehalten.
Beispiele
Im Dritten Reich waren die wissenschaftlichen (nicht die öffentlichen) Bibliotheken die einzigen Bibliotheken, denen die Sammlung und Aufbewahrung verbotener Literatur unter strengen Auflagen der Nutzung erlaubt war. Seit 1933 nahm die Göttinger Universitätsbibliothek Werke „verbotener Literatur“ von aufgelösten Organisationen, mitunter auch von politisch oder religiös Verfolgten in ihre Bestände auf. Seit 1938 erhielt sie zudem zahlreiche Büchersendungen von der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, die seit 1934 eine Verteilerfunktion im deutschen Bibliothekswesen innehatte: Die Behörden erstellten Listen beschlagnahmter Bücher und schickten sie an die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin, die eine Auswahl für ihre eigenen Bestände traf und dafür sorgte, dass die restlichen Titel an die übrigen wissenschaftlichen Bibliotheken verteilt wurden.
Insbesondere seit Beginn des Zweiten Weltkriegs kamen zunehmend auch Lieferungen aus den besetzten Gebieten über die Notgemeinschaft, die „Reichstauschstelle“ und das Beschaffungsamt der deutschen Bibliotheken hinzu. So übersandte das Beschaffungsamt, das die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken mit der wissenschaftlichen Literatur des Auslands versorgte, im Juni 1943 rund 140 Bücher nach Göttingen, die mit Stempeln von Kriegsgefangenenlagern bzw. Angaben von Gründen, aus denen der betreffende Titel zensiert bzw. ausgesondert wurde, versehen sind.
Von den oben genannten 8.221 Verdachtsfällen in den Magazinen der SUB Göttingen, die sämtlich autoptisch geprüft wurden, konnte von 1.081 Büchern festgestellt werden, dass es sich um eindeutige bzw. verdächtige Raubgutfälle handelt. Unter ihnen sind ca. 180 während des Nationalsozialismus verbotene Bücher aus dem Besitz der Stadtbücherei Harburg-Wilhelmsburg, die sich nach 1945 vergeblich um die Rückgabe ihres Bestands bemühte. Darüber hinaus konnte in 125 Fällen der Beweis erbracht werden, dass beschlagnahmte Werke aus SPD- und Gewerkschaftsbibliotheken über lokale Bürgermeister nach Göttingen gesandt wurden. Ferner wurden 32 Bücher mit Stempeln verschiedener Gewerkschafts- und Arbeiterverbände ausfindig gemacht, die über die NS-Einheitsgewerkschaft „Deutsche Arbeitsfront“ in die Bibliothek kamen. Schließlich schenkte der SPD-Politiker Dr. Heinrich Troeger der Göttinger Universitätsbibliothek 1934 72 Bücher marxistischen Inhalts, um politischen Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen. Dem Wunsch seiner Familie entsprechend, die von der SUB Göttingen über den Fund informiert worden war, übergab die SUB Göttingen diese Bücher an die Friedrich-Ebert-Stiftung, an der der Nachlass Troegers verwahrt wird. Bücher jüdischen Vorbesitzes konnten kaum ausfindig gemacht werden. Nur zwei Fälle konnten aufgedeckt werden, in denen sogenannte „Nichtarier“ der Göttinger Universitätsbibliothek Bücher zum Verkauf anboten. Nach dem Willen ihrer Verwandten sollen diese Bücher im Bestand der SUB Göttingen verbleiben.
© Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Grunddaten
Forschungsbericht und Materialien
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Zugehörige Ausstellungen und Publikationen
Inhaltliche Bezüge
Personen/Körperschaften
- Verweist aufFischl, Hanns
- Verweist aufFischl, Friedrich
- Verweist aufHeise, Walter
- Verweist aufUniversitäts- und Landesbibliothek Straßburg
- Verweist aufNiedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen