Erforschung von Objekten der Herero und Fang in der Lübecker Völkerkundesammlung
Beschreibung
Diese Studie untersucht die Provenienz zweier Bestände der Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck. Es handelt sich zum einen um Objekte der Fang aus Kamerun, Äquatorialguinea und Gabun, die von dem Ethnologen Günter Tessmann v.a. im Rahmen der Lübecker Pangwe-Expedition (1907-1909) gesammelt wurden. Diese Sammlung von ursprünglich 1200 Objekten ist größtenteils im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden. Aber selbst ihr heute noch erhaltener Rest gilt als einer der kulturhistorisch bedeutendsten Bestände des Museums. Eine Durchsicht des umfangreichen Quellenmaterials von Tagebüchern, wissenschaftlichen Publikationen etc. belegte, dass neben dem Ankauf und Schenkungen ein Teil der Objekte durch „Strafexpeditionen“, also unter Androhung von Waffengewalt, im Austausch gegen Geiseln und durch die Plünderung eines Dorfes erlangt wurden. Ziel der Untersuchung war es festzustellen, welche der 150 heute noch erhaltenen Objekte mit diesen in den Schriftquellen dokumentierten Unrechtskontexten in Zusammenhang gebracht werden können.
Trotz der im Vergleich mit anderen kolonialen Sammlungen exzellenten Quellenlage ließ sich jedoch kein einziges Objekt eindeutig als Raubgut identifizieren. Bei vier Objekten besteht ein Verdacht, dass sie in den gewaltvolleren Phasen der Expedition ihren Besitzer wechselten. Sechs Objekte sind mit hoher Wahrscheinlichkeit unbelastet. Für das Gros der heute verbliebenen Sammlung sind jedoch keine Erwerbsumstände rekonstruierbar, so dass ein Unrechtskontext weder belegt noch ausgeschlossen werden kann. Einen Sonderfall bilden zwei Objekte, eine Reliquiarfigur und eine Hörnermaske, die Tessmann von Anführern der Fang als Geschenke erhielt. Diese Schenkungen erfolgten jedoch vor dem Hintergrund, dass sich Tessmann als kolonialer Gouverneur ausgab und den Schenkern im Gegenzug wiederrechtlich Bestätigungen ihrer Autorität ausstellte.
Heutige zentralafrikanische Perspektiven auf diese Objekte, insbesondere die Frage ihrer Herkunft und kulturellen Sensibilität, wird von Drossilia Dikegue Igouwe aus Gabun untersucht. Ihre Feldforschung konnte aufgrund der COVID-19-Pandemie aber erst im Herbst 2021 angefangen werden.
Ein zweiter kritischer Bestand besteht aus 119 Objekten aus dem heutigen Namibia. Sie fielen ins Auge, da sie von Offizieren und Mediziner:innen stammen, die im zeitlichen Umfeld des Genozids an den Herero und Nama (1904-1908) in Südwestafrika eingesetzt waren. Eindeutige Nachweise von Raubgut waren auch in diesem Fall nicht möglich, da sich für keines der Objekte die genauen Erwerbsumstände rekonstruieren lassen. So konzentrierten sich die Recherchen auf die Biographien der Sammler:innen und die allgemeinen Rahmenbedingungen damaliger Erwerbungen.
Besonders ins Auge stechen die menschlichen Überreste aus der Sammlung von Elisabeth Kulow, einer Hebammenschwester des Roten Kreuzes, die ab 1909 in der Region Gobabis eingesetzt war. Unter den heute noch vorhandenen menschlichen Überresten in der Völkerkundesammlung konnte lediglich ein Unterkiefer sicher zugeordnet werden. Ein vollständiger Schädel, der mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu dieser Sammlung zählte, konnte als männliches Individuum mittleren Alters bestimmt werden. Er war wohl kein unmittelbares Opfer des Genozids, denn der Schädel ruhte vor seinem Transfer nach Europa längere Zeit in der Erde. Gleiches gilt für den Unterkiefer, der von einem jugendlichen Individuum stammt, wenn auch von einem anderen Fundort.
Was die zeitliche Einordnung angeht, lässt sich nachweisen, dass die Sammlung des Sanitätsoffiziers Dr. Berg bereits vor dem Beginn des Völkermordes angelegt wurde und die Sammlung Kulow in die Jahre nach Ende der Kampfhandlungen datiert, während die Sammlung von Hauptmann Wilhelm Drews vielleicht bereits in der Spätphase der Kampfhandlungen begonnen, nachweislich aber erst im Rahmen seiner späteren kartographischen Tätigkeit zusammengetragen wurde. Unzweifelhaft in die Hochphase des Genozids fallen hingegen die Sammlung von Dr. Jorns und die Erwerbung zweier antiker Vorderlader-Gewehre durch Leutnant Wilhelm Thiel. Er war in der Logistik der Schutztruppe tätig, wo er diese Objekte leicht aus einem Bestand konfiszierter Waffen entwendet haben könnte. Aber auch ein legaler Kauf ist nicht ausgeschlossen.
In allen untersuchten Sammlungen finden sich kunsthandwerkliche Objekte ohne Gebrauchsspuren, die von indigenen Gemeinschaften wohl gezielt für den Verkauf an Europäer produziert und auf Märkten verkauft wurden. Stilistische Analysen und historische Zuordnungen als Objekte der Herero, Nama oder Ovambo erweisen sich z.T. als widersprüchlich. So mögen einige dieser Stücke in einer Gemeinschaft produziert und in einer anderen verkauft worden sein. Ebenso gut könnten Kunsthandwerker aber auch Stile benachbarter Gemeinschaften kopiert haben, so dass die bisherigen ethnischen Zuordnungen kritisch zu hinterfragen sind. Allerdings bleibt auch der vermeintlich harmlose Handel mit Kunsthandwerk in Zeiten eines Völkermordes immer von den damaligen Machtverhältnissen geprägt und kann daher nicht als völlig unbelastet gelten.
(c) Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck
Grunddaten
Forschungsbericht und Materialien
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